αναμνήσεις Anamnisis
αναμνήσεις ist griechisch und bedeutet Wieder-Erinnerung: ich denke und schaue innerlich zurück. Dabei erlebe ich nach, wie lange zurück liegende Erlebnisse, Situationen, Ereignisse, Erfahrungen erwachen. Und wie mit ihnen dann alles wieder lebendig wird, was sie in mir als Kind an Empfindungen, Gefühlen und Gedanken einmal ausgelöst hatten – vor allem an Schmerz, Trauer und Angst.
Ich wurde am 31. Dezember 1945 in Mannheim geboren.
Meine Mutter, Franziska Freudenstein, geborene Aurer, wurde bei Bombenangriffen auf Mannheim 1944 schwer verletzt. Ihr erster Mann, Arthur Freudenstein, war am 14. Juli 1943 in Russland gefallen.
Mein Vater war amerikanischer Soldat polnischer Abstammung und jüdischen Glaubens. Er hieß Ryszard Pozek und stammte aus Krakau. Er war rechtzeitig vor der Besetzung Polens durch Nazideutschland mit seiner Mutter in die USA geflohen. Sein Vater, seine Geschwister, Onkel und Tanten, Cousinen und Cousins sowie Großeltern, Großonkel und Großtanten, alle wurden in Auschwitz und Majdanek ermordet. Er selbst musste 1950 nach Korea, wo er kurz vor Ende dieses Krieges im Juni 1953 fiel.
Die Erzählungen meiner Mutter von ihrem gefallenen ersten Mann, Arthur Freudenstein, von den Bombennächten, in denen sie fast ums Leben gekommen wäre, sind mir immer noch so gegenwärtig, als wäre es gestern gewesen. Vor allem die Geschichte meines Vaters, von seinem Tod im Koreakrieg und der Ermordung seiner Familie durch die Nazis, stehen dabei ganz im Vordergrund. Nicht weniger meine eigenen Eindrücke als kleiner Junge von den zerstörten Städten Mannheim, Ludwigshafen und Heidelberg, von meiner schwer verwundeten Mutter, von meinen kriegsversehrten Onkel, von Menschen, die erblindet, von Brandwunden gezeichnet oder verkrüppelt waren, meist ehemalige Wehrmachtssoldaten, denen ein Arm oder beide Arme fehlten oder denen eines ihrer Beine amputiert worden war oder denen beide Beine fehlten und die sich deshalb auf Kinderwagenuntersätzen oder mit Eisenrollen versehenen Holzbrettern fortbewegten …
Meine eigenen Beobachtungen als kleiner Junge und die Mitteilungen meiner Mutter sowie meine Erfahrungen während der unmittelbaren Nachkriegszeit, alles das hatte sich tief in meine Kinderseele eingesenkt und in mein Gedächtnis eingebrannt und bestimmte meine dadurch zutiefst verunsicherte Beziehung gegenüber der mich umgebenden Welt in den Fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Zwei weitere Ereignisse sollten mein bereits gestörtes Vertrauen in mein Leben und die es beherrschende Welt gänzlich zerstören: die Bilder der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki in der Wochenschau im Kino und die Aufnahmen der Alliierten, die sie in den von ihnen befreiten Konzentrationslagern gemacht hatten. Da war ich noch ein Schuljunge. Als ich älter wurde, wollte ich wissen, wie es zu diesen Katastrophen der Menschheit kommen konnte, die ja, angesichts des sogenannten Kalten Krieges, nicht wirklich überwunden waren.
Doch konnte mein Bemühen um Erkenntnis der Ursachen der Naziherrschaft, des Antisemitismus, des Holocaust, der massenhaften Vernichtung von Menschen durch Atombomben – beginnend mit meiner Lehrzeit 1960 bis zur Studentenbewegung von 1967/68 und während der Siebziger Jahre – meine Trauer über die schweren Verletzungen meiner Mutter durch Bombenangriffe, über den Tod ihres ersten Mannes vor Moskau und den Tod meines Vaters im Koreakrieg nicht mindern. Ebenso wenig meinen Schmerz darüber, dass ich ohne Vater heranwachsen musste. Und schon gar nicht meinen bis heute anhaltenden Schmerz und meine Trauer darüber, dass die gesamte Familie meines Vaters – wie Millionen anderer Menschen jüdischen Glaubens – auf bestialische Weise von Angehörigen des Landes umgebracht worden sind, in das ich 1945 hineingeboren wurde.
Als ein Mensch, der seinen inneren Motiven und Zuständen bildhaften Ausdruck zu verleihen vermag, konnte ich irgendwann auch meiner anhaltend verstörten Seele eine Sprache geben. Nach dem Tod meiner Mutter im November 1975 machte ich mich daran, meiner bis dahin verdrängten Trauer und meinem unterdrückten Schmerz bildhafte Gestalt zu verleihen: meistens an Tagen des Erinnerns an die unfassbaren Grausamkeiten, die Nazideutschland anderen angetan hatte, nur weil sie Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Homosexuelle, Menschen mit körperlichen oder geistig-seelischen Beeinträchtigungen, Sinti oder Roma oder aufrechte Christen waren.
Wie anders hätte ich meine eigene Menschlichkeit bewahren können? Wie, wenn nicht dadurch, dass ich mir den Schmerz über ihr fortgesetztes Verletzwerden sichtbar und dadurch immer wieder von Neuem bewusst mache?
So begann ich im Alter von 30 Jahren die tieferen inneren Schichten meines Erlebens der unmittelbaren Nachkriegszeit wieder zu beleben und bildästhetisch zu transformieren.Dabei kamen mir die Verfahren des Montierens von Bildelementen und des Collagierens von Fotos, Texten, Farbflächen, Formen, Materialien sowie die Konvention des Bildes oder Bildobjekts als caisson assemblage entgegen.
Das lose Montieren von aufeinander sich beziehenden Bildteilen, etwa durch Büroklammern, ermöglichte mir, die Bildzusammenhänge immer wieder umzuarrangieren.
Was da über Jahre entstanden ist, entspricht in seinen bildästhetischen Strukturen den inneren Prozessen, die die Welt bei mir seit frühester Kindheit immer wieder von Neuem auslöst. Eine Welt, die meine innere und äußere Natur als Mensch und mein Leben als Mensch permanent in ihrem Kern beschädigt und zerstört. Und weil ich vermute, dass ich mit dieser Wahrnehmung nicht alleine bin, zeige ich mich mit meinen Bildern: zeige ich meinen Schmerz, meine Trauer und meine Angst.
Hans Raimund Aurer
Freiburg, 14. April 2020